Wenn täglicher Streit den Alltag prägt – und wie Differenzierung eine Beziehung retten kann
- Nicole Neumüller
- vor 5 Tagen
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 2 Tagen

Als Paartherapeuten begegnen uns viele Paare, die sich mit ständigen Streitereien quälen. Was oft wie ein „Kommunikationsproblem“ erscheint, hat in Wahrheit tiefere Wurzeln – es geht um Identität, emotionale Autonomie und die Fähigkeit, in Beziehung zu bleiben, auch wenn es Spannungen gibt.
Ein besonders eindrücklicher Fall war der von Mira und Jens (Namen geändert). Ihre Geschichte zeigt, wie der therapeutische Ansatz der Differenzierung helfen kann, nicht nur weniger zu streiten – sondern einander auf neue, reifere Weise zu begegnen.
Das Problem: Tägliche Streitereien, emotionale Erschöpfung
Als wir Mira und Jens das erste Mal in unserer Praxis trafen, war sofort spürbar: Die Luft war dick. Bereits im Vorgespräch rutschten sie in gegenseitige Vorwürfe ab – wer was wieder falsch gesagt, getan oder nicht getan hatte.
Sie waren seit zehn Jahren zusammen, hatten zwei kleine Kinder, gute Jobs – und eine kaputte Kommunikation.
„Wir streiten jeden Tag“, sagte Mira. „Und ich weiß manchmal nicht mehr, ob ich so noch weitermachen will.“
„Ich fühle mich ständig kritisiert“, sagte Jens. „Egal, was ich mache – es ist nie richtig.“
Was sie nicht sahen: Sie waren nicht nur voneinander enttäuscht, sondern auch emotional verstrickt. Ihre Konflikte hatten weniger mit Sachthemen zu tun – sondern mit der Schwierigkeit, getrennte Personen in einer nahen Beziehung zu sein. Entgegen ihres eigenen Empfindens waren sie nicht zu weit voneinander entfernt - sondern sie waren zu nah, die Meinung des anderen war "zu wichtig".
Der Schlüssel: Was ist Differenzierung?
Der Begriff Differenzierung stammt aus der systemischen und entwicklungspsychologischen Paartherapie. Er beschreibt die Fähigkeit, mit sich selbst in Kontakt zu bleiben, auch wenn der Partner etwas anderes fühlt, denkt oder will – ohne sich aufzulösen oder anzugreifen.
Ein differenzierter Mensch kann z. B. sagen:
„Ich liebe dich – und ich sehe das anders als du.“
Statt: „Wenn du nicht so denkst wie ich, dann bist du gegen mich.“
Der therapeutische Weg: Streiten anders verstehen
In der Therapie erarbeiteten wir drei zentrale Schritte:
1.
Anhalten und aushalten
Wir baten beide, in Konfliktsituationen nicht sofort zu reagieren. Statt impulsiv zu schießen („Du bist schon wieder …“), sollten sie lernen, innezuhalten und in sich hineinzuspüren:
Was fühle ich gerade wirklich?
Was macht die Reaktion meines Partners mit mir?
Diese kleine Pause zwischen Reiz und Reaktion war für beide ungewohnt – aber sie wurde zum Wendepunkt.
2.
Eigenes klären, bevor man den anderen verändern will
Differenzierung bedeutet auch, die eigenen Anteile zu erkennen.
Mira erkannte, dass ihr ständiges Kritisieren auch mit einem alten Muster zu tun hatte – nämlich, dass sie sich nur sicher fühlte, wenn sie Kontrolle hatte. Jens wiederum sah, dass sein Rückzug bei Streit keine “Reife”, sondern Angst vor Konfrontation war – ein Schutzmechanismus aus seiner Kindheit.
3.
Nähe trotz Unterschied
Der wichtigste Schritt war, dass Mira und Jens lernten, Verschiedenheit nicht mehr als Bedrohung, sondern als Chance zu begreifen.
Sie begannen, sich gegenseitig Fragen zu stellen, statt sich zu beurteilen. Sie übten, bei sich zu bleiben, auch wenn der andere gereizt oder verletzt war. Und sie erlebten: Intimität entsteht nicht durch Verschmelzung – sondern durch das mutige Nebeneinander zweier eigenständiger Menschen.
Das Ergebnis: Weniger Streit – mehr Verbindung
Nach einigen Monaten berichteten beide: Die Streitereien waren nicht verschwunden. Aber sie waren seltener, kürzer und weniger zerstörerisch.
Viel wichtiger: Sie fühlten sich wieder als Team. Nicht, weil sie immer einer Meinung waren – sondern weil sie gelernt hatten, Unterschiede auszuhalten, ohne sich zu verlieren.
Fazit: Liebe braucht Nähe – aber auch Abstand
Wenn Paare sich ständig streiten, steckt dahinter oft kein Mangel an Liebe – sondern ein Mangel an innerer Klarheit.
Differenzierung ist kein Allheilmittel, aber ein kraftvoller Weg zu einer reiferen Beziehung: in der Nähe und Autonomie kein Widerspruch sind.
Mira und Jens haben diesen Weg gewählt – und damit nicht nur ihre Beziehung gerettet, sondern auch sich selbst ein Stück besser kennengelernt.
Bild: SnapStock by Pixabay
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